Immer wieder gibt es einzelne Wörter, die plötzlich in aller Munde sind, überall auftauchen und schon sind sie im allgemeinen Sprachgebrauch gelandet und verlieren ihre Schärfe, werden ungenau. Dann sagst du vielleicht „heute bin ich depressiv“ weil du einen traurigen Tag hast, deine Freundin ist „traumatisiert“, weil die Haare beim Friseur falsch geföhnt wurden, oder jemand praktiziert „mindfulness“ indem er sich eine Gesichtsmaske kauft.
Der Begriff „Selbstregulation“ ist auf dem besten Weg, eines dieser Modewörter zu werden. Aber was bedeutet er eigentlich genau?
Selbstregulation – Anpassung auf vielen Ebenen
„Regulation“ oder auch „Regulierung“ meint im weiteren Sinn „Anpassung“. Wir haben einen Regler am Telefon, mit dem wir die Lautstärke der Umgebung angemessen anpassen können. Und über den Regler am Thermostat passen wir die Zimmertemperatur unseren Bedürfnissen an.
Viele Menschen haben nie gelernt, sich selbst zu regulieren – einfach, weil es niemand vorgelebt hat. Selbstregulation ist eng mit dem Thema Trauma verbunden und sehr viel mehr als nur „weniger Stress“.
Biologische Regulation: Der Körper lernt
Unser Körper lernt zu regulieren – und das beginnt direkt mit der Geburt. Manche Prozesse passen sich sehr schnell an (Atmen!), andere dauern länger. Neugeborene sind anfangs z.B. noch sehr schlecht darin, ihre Körpertemperatur zu regulieren, sie können schnell auskühlen aber auch überhitzen. Auch die Verdauung kommt erst langsam in Gang. Das sind Regulationsprozesse auf biologischer, auf Zellebene.
Regulation des Nervensystems: Warum Co-Regulation entscheidend ist
Ein anderer Bereich, der sich erst langsam entwickelt, ist die Fähigkeit zur Selbstregulation auf der Ebene des Nervensystems. Ein Baby weint, weil es ein Bedürfnis hat, vielleicht hat es Hunger oder will auf den Arm oder es ist unangenehm mit einer vollen Windel oder es hat Luft im Bauch… Im Idealfall reagiert die Mutter, findet heraus was los ist, kann das Bedürfnis stillen. Sie selbst ist dabei ruhig und zugewandt, sie ist liebevoll präsent. In dieser beständigen Zuverlässigkeit lernt das Kind Vertrauen, es fühlt sich sicher. Und so kann es wieder aufhören zu weinen. Es ist reguliert.
Jetzt stell dir dieses Szenario noch einmal vor: das Kind weint, aber die Mutter kommt nicht (oder nur manchmal), sie jongliert noch hundert andere Dinge, ist erschöpft oder hilflos, gestresst, weil sie auch nicht weiß, was sie tun soll. Vielleicht schimpft sie oder weint mit oder hat einfach keine Kraft. Das Baby weint weiter. Oder es weint gar nicht mehr, weil es irgendwann nicht mehr glaubt, dass noch jemand kommt. Dieses Baby lernt nicht, sich zu regulieren – es bleibt entweder im Stress, der Angst, dem Weinen oder fällt in die Ohnmacht, die Hoffnungslosigkeit, das Eingefrorensein.
Unser Nervensystem reift erst nach der Geburt vollständig aus. Und wie es sich selbst reguliert, lernt es in der Sicherheit eines regulierten Gegenübers. Das nennt man Co-Regulation.
Co-Regulation im Alltag: Wie wir uns gegenseitig (de-)regulieren
Co-Regulation funktioniert in beide Richtungen. Vielleicht kennst du das – du kommst nach einem anstrengenden Tag nach Hause und freust dich vielleicht auf den Abend, aber dann ist überall Unordnung, dein Partner hat nicht wie versprochen eingekauft und gekocht, die Katze hat neben ihr Klo gepinkelt und keiner hat es weggemacht und dann fällt dir auch noch das frisch eingeschenkte Glas Wasser um und du fängst – je nach Temperament – an zu motzen oder zu weinen. Hast du einen gut regulierten Partner bleibt er oder sie wahrscheinlich ruhig, nimmt dich in den Arm, setzt dich dann auf’s Sofa und bestellt eine Pizza. Hat dein Partner auch nicht gelernt, sich gut zu regulieren, kann das Ganze schnell in einen heftigen Streit ausarten – er oder sie fühlt sich vielleicht angegriffen und nicht gesehen.
Regulation des Nervensystems heißt vor allem: ich lerne mit Schreckmomenten und mit Stress umzugehen. Ist dein Nervensystem gut reguliert, gelingt es dir, den überwiegenden Teil deiner Zeit in einem Zustand der ruhigen Lebendigkeit zu verbringen. Das heißt nicht, dass du nicht auch Stress erlebst, Stress per se ist nichts Schlechtes. Aber Stress ist eben nicht dein Dauerzustand, du findest zurück in deine ruhige Lebendigkeit und landest nicht in der Überwältigung, wo dann irgendwann gar nichts mehr geht, alles schwer ist, du keine Energie mehr hast.
Gefühlsregulation: Nicht unterdrücken, sondern wahrnehmen
Und natürlich müssen wir auch lernen, unsere Emotionen zu regulieren. Wichtig dabei zu verstehen ist, dass es nicht darum geht Gefühle wegzudrücken. Der erste Schritt ist anzuerkennen, dass sie überhaupt da sind. Das ist manchmal gar nicht so einfach. Um Gefühle benennen zu können, muss ich lernen hinzuschauen. Vielleicht hast du aber auch hier kein reguliertes Gegenüber gehabt, das dir gezeigt hätte, wie das geht. Viele Menschen bekommen von klein auf vermittelt, dass es Gefühle gibt, die in Ordnung sind, und andere, die man nicht haben darf. Und dann: wie gehe ich angemessen damit um?
Alles ist verbunden: Körper, Nervensystem, Psyche
Selbstregulation betrifft drei großen Bereiche: Körper, Nervensystem und Psyche. Aber auch wenn ich sie so schön getrennt aufgelistet habe, so sind sie doch eng miteinander verwoben, das sieht man vielleicht an diesem Beispiel: Bestimmt kennst du jemanden (oder bist vielleicht selbst manchmal) „hangry“: das ist jemand, der plötzlich total unausstehlich wird und Streit sucht und nichts geht mehr. Und die Person weiß oft selbst nicht was los ist, dafür hat ein nahestehender Mensch herausgefunden: hier fehlt Futter! Und dann gibst (oder bekommst) du etwas zu essen, und auf einmal ist die Welt wieder in Ordnung. Auf Körperebene haben wir hier einen nicht gut regulierten Blutzuckerspiegel, auf psychischer Ebene ein fehlendes Gewahrsein für den eigenen Zustand und die eigenen Bedürfnisse und auf der Ebene des Nervensystems eine Dysregulation in den Stress.
Bewältigungsstrategien: Wenn Selbstregulation fehlt
Wenn wir als Kinder nicht richtig lernen uns zu regulieren, entwickeln wir oft Strategien, um in ein vermeintliches Gleichgewicht zurückzufinden: Essen, vor allem Süßes, Salziges oder Fettiges (denk an Chips und Schokolade), werden dann gezielt verwendet, um sich besser zu fühlen. Oder auch Alkohol, Zigaretten, Computerspiele, Arbeit, TikTok schauen… Je nach Veranlagung beamen wir uns weg oder verlagern Gefühle. All das können Strategien sein, mit der eigenen Dysregulation umzugehen. Es sind Lösungsversuche. Das ist wichtig zu verstehen – ich kann meine Lösung nicht einfach aufgeben, solange ich nicht wirklich weiß, wie es anders geht.
Kann man Selbstregulation lernen?
Und wie lerne ich nun, mich selbst zu regulieren? Am einfachsten und wirkungsvollsten ist es durch ein reguliertes Gegenüber – jemand, der sich nicht hineinziehen lässt in dein Chaos. Es braucht aber auch noch andere Komponenten: du musst ein Bewusstsein entwickeln für dich und für das, was du lernen möchtest. Und du musst es üben. Das ist der Grund, warum es zwar schön ist regulierte Menschen im Umfeld zu haben, das aber nicht nachhaltig hilft, wenn ich mich verändern möchte.
Ein erster Schritt, wenn du lernen möchtest dich selbst zu regulieren, ist herauszufinden, was Stressauslöser sind. Wann wird dein System mit Adrenalin geflutet? Das sind die Momente, die dich aus deiner Mitte werfen. Denn dann bist du nicht mehr in deiner ruhigen Lebendigkeit. Und wenn du nicht mehr in deiner ruhigen Lebendigkeit bist, kannst du nicht mehr zuhören – weder dir selbst noch anderen. Das sind die Momente, in denen sich alles andere abspielt – der Streit, die Gefühle der Ohnmacht und des Unverstandenseins, des nicht Verbundenseins und des Ungeliebtfühlens, hier fühlen wir uns wertlos und falsch und haben keine Hoffnung mehr, bewegen uns mit unseren Gedanken im Kreis und finden keinen Ausweg.
Regulation in der Therapie: Ein sicherer Raum
Selbstregulation ist kein Ziel, das du „erreichen“ musst. Sie ist vielmehr ein Weg zurück in deine innere Sicherheit – in deine ruhige Lebendigkeit. Du musst diesen Weg nicht allein gehen. In Verbindung mit einem anderen Nervensystem kann etwas neues beginnen.
Du darfst lernen, dich selbst zu halten.